von | Juni 10, 2018

Deutschland – Ewig digitales Entwicklungsland

Vor wenigen Tagen habe ich einen Artikel gelesen in dem gesagt wird, dass ein Drittel aller deutschen Firmen digitale Nachzügler sind. Der Artikel beruft sich auf eine BCG-Untersuchung, bei welcher Manager aus 1.900 Firmen in den USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien befragt wurden. Demnach sind 36 Prozent der deutschen Unternehmen als digitale Nachzügler einzustufen.

Was einen digitalen Nachzügler ausmacht oder wie dieser genau definiert ist, wird in dem Artikel leider nicht erwähnt. Schade, denn gerade das hätte ich mal spannend gefunden. Macht es nicht Sinn die Schwachstellen zu kennen, wenn man am Status Quo was ändern oder verbessern will?

Die Messung des Digitalisierungsgrad deutscher Unternehmen

Aber naja. Die Diskussion um Deutschland als digitales Entwicklungsland ist ja auch nicht neu. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie beobachtet seit 2013 die Digitalisierungsbemühungen der deutschen Wirtschaft und gibt jährlich den Monitoring-Report “Wirtschaft DIGITAL” in Auftrag. Laut dem Report von 2017 liegt die deutsche Wirtschaft auch hier nur im Mittelfeld der Digitalisierung. Der Wirtschaftsindex DIGITAL erreicht 54 von 100 möglichen Indexpunkten, wobei Null im Index bedeutet, dass keine Geschäftsabläufe oder unternehmensinterne Prozesse digitalisiert sind und auch noch keine Nutzung digitaler Technologien erfolgt. Ein Indexwert von 100 zeigt, dass die Gesamtwirtschaft oder das Unternehmen vollständig digitalisiert ist. Digitalisierung wird in diesem Monitoring definiert als die Veränderung von Geschäftsmodellen durch die grundlegende Modifikation der unternehmensinternen Kernprozesse, ihrer Schnittstellen zum Kunden und ihrer Produkte sowie Services durch die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien. Somit basiert die Messung des Digitalisierungsgrads bei diesem Index auf den drei Säulen:

  • Geschäftserfolge auf digitalen Märkten (z.B. digital generierte Umsatzanteile am Gesamtumsatz oder Umfang digitalisierter Angebote und Dienste)
  • Reorganisation der Unternehmen im Zeichen der Digitalisierung
  • Nutzungsintensität von digitalen Technologien und Diensten

Als Praktiker im Umfeld Digitalisierung begrüße ich es sehr, dass hier die beiden Kernkomponenten der digitalen Transformation, also die unternehmensinterne Digitalisierung aka Digital Workplace als auch die Digitalisierung im Sinne von digitalen Geschäftsmodellen erfasst werden.

Es mag ein Licht am Ende des Tunnels sein, dass ein Viertel der Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft mit 70 Indexpunkten und mehr als „hoch“ digitalisiert eingestuft ist und das das verarbeitende Gewerbe mit 42 Indexpunkten als unmittelbare Folge des Engagements der Industrieunternehmen in Projekten zu „Industrie 4.0“ drei Punkte mehr als 2016 erreicht. Aber Mittelfeld bleibt Mittelfeld und die Prognose eines Digitalisierungsindex im Jahre 2022 von 54 Punkten für große Unternehmen und 56 Indexpunkten für den Mittelstand finde ich schon sehr bedenklich. Eine Erhöhung des Digitalisierungsindex um 2 Punkte in 4 Jahren? Also das erscheint mir langsamer als Schneckentempo. Und dabei hatte ich noch gehofft, dass Deutschland und die deutschen Unternehmen vielleicht doch noch aufwachen und anfangen digital Gas zu geben, um nicht abgehängt zu werden.

Befürchtungen der Digitalisierungsverweigerer

Und zu den 29 Prozent der Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft, die laut dem Monitoring-Report im Jahre 2017 eine Digitalisierung des eigenen Unternehmens als nicht erforderlich ansehen fehlen mir schlichtweg einfach die Worte. Was soll man angesichts einer solchen Ignoranz auch noch sagen?!?

Nichtsdestotrotz muss man dies natürlich hinterfragen und versuchen die Ängste und Befürchtungen der Digitalisierungsverweigerer unter den Unternehmen zu verstehen und ernst zu nehmen.

Die Deutsche Telekom, interessiert an den Digitalisierungsbemühungen des deutschen Mittelstands, beauftragt für diesen ebenfalls einen Digitalisierungsindex, erhoben von der Firma techconsult. Die Ergebnisse (54 Indexpunkte von 100) ähneln denen des Wirtschaft DIGITAL Monitoring-Report, liefern darüber hinaus aber Einsichten in die Bedenken der Unternehmen hinsichtlich der Digitalisierung. So fürchten Unternehmen vor allem hohe Investitionskosten (35 Prozent), um die Sicherstellung des Datenschutzes (34 Prozent) und die Gewährleistung der IT-Sicherheit (33 Prozent).

Meine offensichtlich nie ganz erloschene Liebe zur Statistik und Wirtschaftsforschung würde mich hier am liebsten noch tiefer eintauchen lassen. Aber als Digital Workplace Consultant und begeisterter Nutzer von digitalen Tools und Anwendungen brauche ich keine Studien zu lesen oder Zahlen zu analysieren um zu sehen, wie dürftig es um die Digitalisierung Deutschlands bestellt ist.

Es mangelt an der Veränderungsbereitschaft

Nicht nur in meinem täglichen Kontakt mit Kunden sehe ich wieviel Luft nach oben noch ist, wenn es um den digitalen Arbeitsplatz, das Thema New Work, remote Arbeit oder die Digitalisierung von  unternehmensinternen Prozessen geht. Die Technologie und Anwendungen sind da, aber es mangelt häufig an der Veränderungsbereitschaft in den Köpfen und den geeigneten Methoden, die Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Lösungen und einer neuen Arbeitskultur und -weise zu vermitteln. Einerseits gibt es eine leider zu große Anzahl an Menschen, die digital im Abseits stehen und sich von der Digitalisierung überfordert fühlen, wie auch der D21-Digitalindex zeigt. Andererseits gibt es nach wie vor Führungskräfte, die Angst vor Kontrollverlust haben und sich durch Mitarbeiter mit mehr Eigenverantwortung und einer vernetzten Denk- und Arbeitsweise bedroht fühlen, anstatt die Potentiale, die darin liegen zu erkennen. Auch gesetzliche Vorgaben und rechtliche Regelungen, bei denen man sich manchmal fragt in welchem Jahrhundert diese entstanden sind, stehen einer raschen digitalen Transformation zum Teil im Wege. Es gibt also nach wie vor viel zu tun. An allen Fronten.

Ohne entsprechende Infrastruktur wird sich wenig ändern

Aber ganz besonders auch bei der in Deutschland bereit stehenden Infrastruktur. Das betrifft die Breitbandverfügbarkeit und die deutschlandweite Abdeckung mit mobilem Netz. Und dabei rede ich nicht mal nur von mobilen Daten, sondern leider auch noch von der einfachen mobilen Telefonverbindung. Diese gibt es in Deutschland leider nach wie vor nicht in allen Regionen.

Kein Wunder also, das die zentralen Anforderungen der Unternehmen, die an der Befragung zum Monitoring Wirtschaft DIGITAL teilgenommen haben, an die Politik wie folgt lauten: 86 Prozent der Unternehmen wünschen sich von der Politik eine Förderung des Breitbandausbaus. Es folgen die Schaffung eines digitalisierungsfreundlichen rechtlichen Rahmens (81 Prozent) und der kostenfreie Zugang zu neuem innovationsrelevanten Wissen, das mit öffentlichen Mitteln erarbeitet worden ist (79 Prozent).

Aber man muß gar nicht erst die Unternehmen zur Argumentation bemühen. Es reicht bereits, als Otto Normalverbraucher in Deutschland unterwegs zu sein und ununterbrochen Zugang zu schnellem Internet haben zu wollen. Obwohl der Breitbandausbau Fortschritte macht, liegt die durchschnittliche Breitbandverfügbarkeit in deutschen Haushalten bei Geschwindigkeiten von mehr als 50 Mbit/s nur bei 76,9 Prozent. Ich erlebe das selbst am eigenen Leib, wenn ich mich hier im eher ländlichen Baden-Württemberg aufhalte. Vor allem die teilweise Instabilität der Verbindung nervt und ist ein Hindernis für meine tägliche Arbeit. Aber immerhin liegt Deutschland laut einer Erhebung von cable.co.uk auf Platz 24 wenn es um die Geschwindigkeit geht. Zumindest da, wo schnelles Breitband verfügbar ist 😉

Noch schlimmer wird es, wenn es um mobile Netzabdeckung geht. Ich verbringe viel Zeit in Südostasien, hauptsächlich Thailand. Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich dort im Display meines Smartphones “3G” anstatt “LTE” gelesen habe. Zurück in Deutschland kann ich an einer Hand abzählen, wie oft “LTE” im Display steht. Häufiger lese ich dort das “3G” oder sogar das “E”, welches ich schon fast vergessen hatte, da es mir vorkommt wie ein Relikt aus Urzeiten. Und hier liegt Deutschland im weltweiten Vergleich dann tatsächlich im unteren Drittel. Wusste ich’s doch, dass ich mich nicht täusche, wenn ich jedes Mal bei meiner Rückkehr von Thailand nach Deutschland das Gefühl habe, im digitalen Entwicklungsland angekommen zu sein.

Ich möchte hier auch gar kein Deutschland-Bashing betreiben. Und klar ist es einfacher sich über die aktuellen Umstände zu beklagen anstatt umsetzbare Lösungen zu erarbeiten und parat zu haben. Aber ich wollte einfach mal ein bisschen meinen Frust rauslassen und wachrütteln. Mit Hilfe von Zahlen und Statistiken aufzeigen, dass wir in Deutschland nicht nur gefühlt ein digitales Entwicklungsland sind, sondern tatsächlich bei der Digitalisierung hinterherhinken. Und das dies nicht nur in der Verantwortung der Unternehmen und Bürger liegt, sondern auch und insbesondere in der Verantwortung der Politik. Wir alle gemeinsam haben es in der Hand, wie schnell Deutschland im Bereich der Digitalisierung aufschließt und seinen Status als digitales Entwicklungsland hinter sich lässt. Lasst uns was tun!

In der 4. Folge des digiTALK Podcasts spreche ich mit Prof. Dr. Irene Bertschek unter anderem über genau dieses Thema. Reinhören lohnt sich!